holyEATS #34: Wie Deliveroo und Amazon voneinander profitieren könnten (und nicht nur den Markt für Lieferessen durcheinander wirbeln)

holyEATS #34: Wie Deliveroo und Amazon voneinander profitieren könnten (und nicht nur den Markt für Lieferessen durcheinander wirbeln)

Foto [M]: Deliveroo, Amazon
Foto [M]: Deliveroo/Amazon
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Universalkonzern und Delivery-Spezialist entdecken unüberbrückbare Gemeinsamkeiten.

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Amazon und Deliveroo entdecken unüberbrückbare Gemeinsamkeiten

Am vergangenen Freitag hat der britische Lieferessendienst Deliveroo bekannt gegeben, den sympathischen Universalkonzern Amazon in den Reihen seiner Investoren zu begrüßen. Amazon hat einen großen Teil der 575 Millionen US-Dollar beigesteuert, die Deliveroo in der jüngsten Finanzierungsrunde (G) einsammeln konnte (auch von bisherigen Investoren). Von einer konkreten Zusammenarbeit der beiden Unternehmen ist in der Mitteilung zwar noch keine Rede. Die darüber ausgetauschten Freundlichkeiten klingen aber schon stark nach Verlobung. Deliveroo-Gründer Will Shu schwärmt von Amazon als „persönliche[r] Inspiration“, während Amazons Großbritannien-Chef Doug Gurr „beeindruckt“ davon ist, wie sehr Deliveroo sich dafür reinhänge, seinen Kunden immer die besten Lieferoptionen zu bieten.

Die Liaison erfolgt wenige Monate nachdem Amazon seinen eigenen Restaurant-Lieferessendienst Amazon Restaurants in London eingestellt hat (was bereits Prognosen weiterer Zusammenschlüsse erlaubte, siehe holyEATS #23) und Gerüchte kursierten, die frischgebackene Börsenenttäuschung Uber habe sich um eine Ubernahme von Deliveroo bemüht.

Den übrigen europäischen Lieferessen-Anbietern hat die Allianz direkt nach Bekanntwerden Börsenkopfschmewrzen bereitet – allen voran dem britischen Wettbewerber (und Marktführer) Just Eat, aber auch Delivery Hero und Takeaway.com, für das die türkisfarbenen Rider zum Beispiel im deutschen Markt das letzte Hindernis auf dem Weg zum endgültigen Digital-Monopol sind. Denn natürlich erlaubt das Amazon-Investment eine ganze Reihe an Spekulationen über mögliche Kooperationsmodelle, die (nicht nur) den Markt für Lieferessen ziemlich durcheinander wirbeln könnten.

Für Deliveroo ist Amazon eine Art Versicherung, in einem sich rasant konsolidierenden Markt nicht ins Hintertreffen zu geraten und weiter in die Entwicklung des Geschäftsmodells investieren zu können – denn genau das wird in den kommenden Jahren notwendig sein. Länger womöglich als die Geduld der bisherigen Investoren reichen könnte. Und für Amazon? t3n vermutet, der Konzern könne versuchen, über Deliveroo endlich „auf dem asiatischen Markt Fuß zu fassen“. Exciting Commerce überlegt: „Man stelle sich nur vor, Amazon würde Deliveroo irgendwann übernehmen und in Prime Now umbenennen.“ Und Bloomberg betont, Amazon sei gut beraten, erstmal zu testen, wie nachhaltig die ganze Essensauslieferei überhaupt funktioniere: „The business remains unproven (…).“ Dabei gäbe es durchaus mehrere Möglichkeiten, die Stärken von Deliveroo mit den eigenen zu kombinieren.


Der Prime-Now-Soforteffekt

Die offensichtlichste ist eine Kombination mit dem eigenen Schnelllieferdienst Prime Now, über den Amazon allerlei Artikel des täglichen Bedarfs inklusive frischer Lebensmittel zum Sofortbersitz anbietet – die künftig im problemlos auch von Deliveroo-Ridern zugestellt werden könnten. Dank der insbesondere in britischen Städten etablierten Lieferküchen unter dem Namen „Deliveroo Editions“ würde Amazon auf einen Schlag über zahlreiche Zusatzstandorte für Prime Now verfügen, um z.B. die Flasche Wein zur Pizza mitzuliefern, ein Sixpack Bier zum Pad Thai, Chips und Eiscreme zum Nachtisch. (Und irgendeins der sechsunddrölfzig Alexa-Geräte, die einem permanent aufgedrängt werden, gleich dazu.)

Deliveroo könnte dadurch nicht nur die Attraktivität seines Angebots steigern. Sondern auch seine etablierte Logistik besser ausnutzen, indem Rider außerhalb der klassischen Stoßzeiten, zu denen klassischerweise Essen bestellt wird, normale Amazon-Bestellungen ausliefern. Auch das ließe sich über Editions-Standorte organisieren, indem morgens alle für den Umkreis adressierten Pakete in einen eigenen Container angeliefert werden. Sinnvoller als Deliveroo komplett im eigenen Angebot aufgehen zu lassen, wäre es höchstwahrscheinlich, den Lieferessendienst weiter eigenständig arbeiten zu lassen und als Marke auf der Prime-Now-Plattform zu etablieren – ganz so wie die Supermarktkette Whole Foods in den USA.

Bei der kann sich Amazon eine ganze Reihe bereits erprobter Maßnahmen abgucken – zum Beispiel die Integration von Prime als Bonusprogramm, um Mitgliedern Vergünstigungen (wie kostenlose Essens-Lieferungen) zu versprechen und die Attraktivität des Gesamtangebots zu erhöhen. Deliveroo bräuchte kein eigenes Kundenbindungssystem aufzubauen, wie es auch im Lieferessen-Markt zunehmend zum Standard wird (u.a. Takeaway.com hat bereits ein eigenes).

Eine vollständige Übernahme von Deliveroo böte Amazon zudem die Chance, in Europa anders zu verfahren als im amerikanischen Heimatmarkt, wo der Konzern den Einstieg in den Lebensmitteleinzelhandel mit dem Whole-Foods-Kauf auf direktem Weg versucht hat – und trotz großer Ambitionen bislang noch nicht wirklich vorangekommen ist.


Strategischer Lückenschluss mit Deliveroo

Deliveroo wäre für Amazon ein strategischer Lückenschluss. Der Dienst würde es ermöglichen, in Großbritannien vorerst keine weitere Supermarktkette übernehmen zu müssen, sondern die eigene Marktdominanz über ein Netzwerk mit Händlerkooperationen auszubauen, das von einer starken Lieferlogistik getragen ist, wie sie keiner der großen Wettbewerber vorweisen kann. Schon heute arbeitet Deliveroo mit der britischen Supermarktkette The Co-Op zusammen, um Bestellungen auszuliefern, die direkt in den Läden kommissioniert werden (siehe holyEATS #28). Und wie es der Zufall will, hat die Supermarktkette Morrisons, die seit längerem als Amazon-Übernahmekandidat gilt, vor anderthalb Wochen bekannt gegeben, die bestehende Partnerschaft mit dem britischen Lebensmittel-Lieferprimus Ocado gelockert zu haben. Morrisons verzichtet auf sein ursprünglich vereinbartes Recht zur Nutzung von Lagerkapazitäten im Ocado-Lager in Erith, östlich von London. Ocado kann den Platz, der nach der Zerstörung eines anderen Lagers durch ein Feuer im Februar knapp geworden ist, für sich selbst nutzen und sich auf den angekündigten Zusammenschluss mit M&S konzentrieren (siehe holyEATS #28). Im Gegenzug erhält Morrisons das Recht, Lebensmittel online auch über andere Plattformen und Partner zugänglich zu machen. Der „Guardian“ wusste auch direkt, wer dafür in Frage kommt: Amazon und Deliveroo.

Eine Kooperation von Amazon, Deliveroo, Morrisons und The Co-Op hätte im Handumdrehen eine enorme Marktmacht, von der alle Partner gleichermaßen profitieren würden. Amazon und Deliveroo durch eine Erweiterung ihres Angebots und den Zugang zu etablierten Lebensmittelsortimenten; Morrisons und The Co-Op durch eine riesige Online-Kundenbasis und etablierte Lieferstrukturen, um sich gegen Tesco, Ocado/M&S & Co. zu wappnen.

Für Amazon wäre diese Strategie zumindest auf den ersten Blick sehr viel leichter umsetzbar als eine Übernahme der SB-Warenhauskette Asda, die nach der geplatzten Fusion mit Sainsbury’s höchstwahrscheinlich zum Kauf bereit stünde – aber vermutlich noch sehr viel aufwändiger integriert werden müsste als Whole Foods. Für den eigenen Lebensmittel-Lieferdienst Amazon Fresh könnte eine solche Konstellation den Todesstoß bedeuten – weil Amazon das mühevolle Geschäft mit frischen Lebensmitteln dann doch lieber (möglichst engen) Partnern überließe.


Amazons Ambitionen als Lunch-Versorger

Die Ambition, eine Vollversorgung für Prime-Mitglieder auch auf (Liefer-)Essen auszuweiten, das direkt verzehrt werden kann, ist für Amazon nicht neu. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren hat der Konzern viele kleine Anläufe in dieser Richtung gestartet, ist damit bislang nur noch nicht so recht vom Fleck gekommen.

Amazon Go: Zwölf Amazon-Go-Filialen gibt es inzwischen in den USA. Mit der jüngsten Neueröffnung hat Amazon sein Konzept des kassenlosen Minisupermarkts auch nach New York City geholt; insgesamt 3.000 Filialen sollten laut Medienberichten bis 2021 eröffnen. Das klingt arg ambitioniert. Fakt ist aber, dass Go nicht nur klassischen Lebensmittelhändlern Konkurrenz macht, sondern durch eine üppige Auswahl an Ready Meals, also fertig zubereiteten Mahlzeiten für den Sofortverzehr, auch systemgastronomischen Konzepten wie Pret und Chipotle. Dafür dockt Amazon eigene Zubereitungsküchen an seine Go-Stores an, die sich hervorragend dafür eignen, Gerichte auch direkt für die Lieferung zu produzieren. Der erste europäische Amazon Go soll in London eröffnen – und hätte dank Deliveroo theoretisch direkten Bestellanschluss.

Amazon Restaurants:2015 startete Amazon in einigen amerikanischen Großstädten seinen eigenen Lieferessendienst Amazon Restaurants. Auswahl und Navigation sind (z.B.) in New York City lange nicht so ausgeklügelt und flexibel wie bei der zahlreich vorhandenen Konkurrenz. Dafür ist Amazon Restaurants als einer von zahlreichen „Shops“ voll in die Prime-Now-App integriert – was in europäischen Märkten auch mit Deliveroo in Frage käme.

Daily Dish:Am Stammsitz in Seattle testet Amazon seit 2016 die Amazon-Restaurants-Ausgliederung „Daily Dish“: In ausgewählten Büros und Coworking-Spaces kriegen hungrige Angestellte bzw. Freelancer morgens um halb 10 eine Auswahl von sechs Tagesgerichten aufs Smartphone geschickt und können sich bis 11 Uhr entscheiden, ob sie eines davon bestellen wollen. Die Order werden in Partnerrestaurants zubereitet und gesammelt zwischen 12 und 12.30 Uhr mittags zugestellt („Your work lunches just got better“). Der Test wurde inzwischen auf Austin, Texas, erweitert. Dort kommen die „Daily Dishes“ auch direkt in Whole-Foods-Filialen.

Instant Pick-up: Andere Zielgruppe, aber ähnliche Idee: Amazon zielt zunehmend darauf, Kunden dort zu versorgen, wo sie sich ohnehin aufhalten – dazu zählen natürlich auch Campusse (amerikanischer) Universitäten, wo an festen Abholstationen der „Instant Pick-up“ möglich ist. Häufig gekaufte Artikel, aber auch Snacks und Getränke werden per Smartphone-App bestellt, bezahlt und von Mitarbeitern in ein Fach fest installierter Locker eingelegt. Nach zwei Minuten ist der Mini-Einkauf für den kleinen Hunger zwischendurch mit dem aufs Smartphone gepuhsten Code abholbereit.

Kühlunabhängiges Sofortessen:Reuters meldete vor zweieinhalb Jahren, dass sich Amazon für ein Verfahren interessiere, mit dem Ready Meals per Hochdruckversiegelung im Wasserbad über längere Zeit haltbar gemacht werden können – ohne gekühlt werden zu müssen. Im Regal wären die Mahlzeiten bis zu einem jähr haltbar, vor allem aber natürlich perfekt für die Lieferung. Zum Einsatz scheint das Verfahren bislang bei Amazon nicht gekommen zu sein – gut möglich, dass das kooperierende Start-up es damals etwas zu vorschnell war mit der Ankündigung einer möglichen Zusammenarbeit.

Denn ergeben all diese Einzelteile zusammengesetzt ein ziemlich eindeutiges Bild: Amazon will Kunden künftig auch mit fertig zubereiteten Mahlzeiten versorgen – sei es auch nur, um Konkurrenten abzuwehren, die mit der Hilfe von Lieferessen-Logistikern zunehmend in von Amazon besetzte Geschäftsfelder drängen. Die Übernahme eines etablierten Diensts wie Deliveroo wäre dafür eine hervorragende Grundlage.

Im Erfolgsfall ließe sich diese Strategie auch zurück in den Heimatmarkt transferieren. Bereits vor zwei Jahren spekulierten amerikanische Analysten, Amazon könnte sich einen der stark expandierenden Delivery-Spezialisten einverleiben – als aussichtsreichster Übernahmekandidat galt damals laut „Chicago Tribune“ (Cache-Link): GrubHub. „A combination of WFM [Whole Foods Market, red.] and GRUB would give AMZN significant competitive positioning on in-home meal consumption regardless of whether the meal was prepared in home or at a restaurant,” zitierte die Zeitung einen Analysten. Es sieht so aus, als wolle der Konzern diesmal erst in Europa testen, ob diese Rechnung tatsächlich aufgeht – im Zweifel auch ohne eigene Supermarktkette. Der Wettbewerb zwischen den europäischen Lieferessen-Anbietern wird dadurch in nächster Zeit in jedem Fall nicht uninteressanter.


Nachschlag

  • Alles, wirklich alles, was Sie über Pizza-Kartons wissen müssen. (Quartz Obsessions)
  • Die Nachricht in der Uber-Eats-App, dass das bestellte Essen jetzt zubereitet wird, ist geraten und dient lediglich der Beruhigung der Kunden, damit die nicht ständig den Service anrufen. (Fast Company)
  • Und Ikea wird in Paris zum Salatanbieter? (Food Service)

Vielen Dank an Jörg!

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